Dienstag, November 29

Das Buch der Zeit




Weit weg lebt sie, in einer Welt ohne Zeit. Zusammengesetzt aus zwei, von unerklärlichen Kräften, die doch jeder kennt, in der Luft gehaltenen Inseln. Sie hatten im Gleichklang der Unterschiede ihre Unbeschreiblichkeit gefunden, wertvoll. Die einzige Verbindung zwischen ihnen war ein hauchdünnes Seil, jeder noch so kleiner Windstoß schien es wegtragen zu können, doch ist es wohl das Stärkste und Stetigste in diesem Zusammenspiel von Ungewöhnlichkeiten.
Unter ihm ein endloser freier Fall, ohne Aufprall, denn es gibt Schlimmeres als aufzukommen und zu zerspringen in tausend kleine Einzelteile. Splitter die sich in anderer Menschen Herz bohren. Winzige kleine, klaffende Wunden würden sie schlagen, durch ihre Größe ungewiss, würden sie den stärksten Muskel, welchen wir stolz unser Eigen nennen dürfen, auf Dauer zum versteifen bringen. Zum Erlöschen eines jeden Geräusches. Sie wäre Splitter. Ungewisser, unendlicher Fall.

In einem Teil dieser Welt, in einer dieser Welten, herrschte ewig Winter, bedeckt mit Schnee und Eis waren die Hügel und Täler in ihrer vollkommenen Schönheit starr.
Sowie der Freude eines Kindes, bei einem Winterspaziergang, erging es auch ihr, die sie anfangs im Schnee getollt hatte mit endloser Energie, wie sie nur Kinder zu haben scheinen. Trotz Fallen und Gleiten fand sie mit einem Lachen auf den Lippen wieder auf die Beine. Sie war schon immer ein Dezember Kind, war nie ein Dezember Kind, gewesen.
Als Rot durch den Stoff sickerte und die Knie nicht mehr nur wund sondern blutig waren war der Moment gekommen die eisige Kälte zu bemerken, auch wenn sie die ganze Zeit present gewesen war, zu bemerken wie diese sich in ihr einnisten wollte, sie bändigen wollte. Es war der Moment den beißenden Nordwind kennen zu lernen, der sie in seinen Launen auf der Insel hin und her schleudern würde. Und sie mit unsichtbaren Händen schlug und sie dazu zwang Schutz zu suchen unter spitzen, bedrohlich glänzenden Eiszapfen. Schutz zu suchen bei der Kälte und dem tauben, Traum losen Schlaf auf den diese sich so gut verstand.
Doch aus fast jedem noch so tiefen Schlaf muss man erwachen, denn all der Kälte zum Trotz hatte ihr noch immer glühendes Herz sie am Leben gehalten, am Überleben.
Nicht das rettende Herz, sondern die sich immer während füllende Lunge hatte gelernt den Nordwind als das zu nehmen was er war, Luft. Nicht mehr und nicht weniger. Luft der sie sich nicht entziehen konnte, die sie zum Atmen brauchen würde.
Im Windschatten fand sie, an diesem einen Tag von vielen, einen breitgetretenen Pfad im neu Schnee. Er führte sie zu dem lang schon beäugten und bestaunten anderen Ende der Insel, an welchen sie den Übergang zur anderen Welt finden sollte. Ein Fließen von Sanftheit in einer harten Schrittfolgen fügte sich an die Fußspuren die ihre Augen hinterließen. Es war die Natürlichkeit mit welcher sie sich auf den Bändern bewegte, die sie durch die Lüfte trug, sie das Gleichgewicht halten ließ, als hätte sie nie etwas anderes getan. In den Abgrund blickend.
Seit diesem ersten mal sollte ihr diese Überquerung des Unüberquerbaren jedes mal schwerer fallen bis es unmöglich war. Bis es möglich war.
Unter ihr der leere Abgrund.
Auf der anderen Seite dieser zauberhaften Verbindung setzte sie ihren Fuß erst auf das grüne saftige Gras nachdem sie mit der Spitze ihres großen Zehs seine Wahrhaftigkeit überprüft hatte, sowie man sonst vorsichtig prüft ob das Wasser in der frisch eingelaufenen Badewanne noch zu heiß ist um sich in ihren Wassermassen genussvoll zu verlieren.
Sie war überrascht von der Echtheit des Grases, dass wie ein Teppich so gut wie jeden Millimeter der Insel bedeckte, von der Wirklichkeit der unzähligen andersartigen Blumen und der Authentizität der hochgewachsenen Bäume die ihre majestätischen Äste mit, vor Leben strotzenden, Blättern schmückten. Wenn sie ihre Augen auf einen einzigen Punkt konzentrierte, was ihr schwerfiel bei all dem was es zu entdecken galt, wirkte ihr Drumherum wie ein einziges Meer aus bunten Flecken. So badete sie, als Beobachterin, in allen Variationen der Farben. Sie drehte sich im Kreis bis ihr schlecht wurde vor Glück, den Blick auf den blauen Himmel gerichtet.
Ein Gemisch aus Farben, Düften und Geräuschen um sie herum die alle nur das eine riefen, schrien, Leben.
Sonnenstrahlen kitzelten mit ihrer Wärme und ließen in ihrem Licht den Staub vergangener Zeiten tanzen. Sie hätte ewig so daliegen können mit geschlossenen Augen, dieses mal der Dunkelheit ergeben aus Vertrauen in ihre Umwelt, sicher das die Farben sie auffangen würden, beschützen würden was auch immer passierte.
Und doch wurde sie zurück gezerrt vom gnadenlosen Nordwind, er entriss sie diesem Ort, der ihr wie das Paradies vor kam und pflanzte sie wie ein Spenderorgan in einen fremden Körper, in eine fremde Welt, denn sie sollte ihn, ohne Rücksicht auf Verluste, am leben halten.
Wenn sie dann wieder im Schnee lag schweiften ihre Gedanken, flogen, zu diesem ausgefallenem Platz, an der Seite der Blumen und er erschien ihr wie ein verblassender Traum, als hätte Regen die Farben aus den Blüten gewaschen und diese wären in einem Regenbogen von der Insel geflossen. Eine einzige weg gespülte Illusion.
Doch bei jeder Rückkehr schien sie in der Bestätigung der Echtheit neue Kraft zu schöpfen von welcher der Winter zehren sollte.
Während die Tage des Sommers immer heißer wurden und die des Winters ihre eisige Standfestigkeit bei behielten wurde aus dem blinden Vertrauen in ihr Paradies eine lähmende Blindheit. Geblendet war sie von dem Licht der Sonne und die heiße stickige Luft presste sich nur unter großen Mühen in ihre Lunge. Sobald sie ausatmete regte sich in ihr schon wieder das Verlangen nach Luft zu schnappen. Der Sommer, ihr Sommer, hatte sie verraten, hatte alles gegen sie gekehrt was sie geliebt hatte. Es ins Extrema getrieben bis es ihr schadete, bis es sie zerstörte. Sie und die Farben mit ihr.
Das Gras verbrannte und die Blumen verdorrten unter der unbändigen Zerstörungskraft der herzlosen Sonne. Die Bäume sahen sich gezwungen ihre Blätter zu verstecken unter gekräuseltem, leeren Braun.
Sie war gezwungen über ein zerfasertes Seil zu balancieren, mit schweren Beinen und schwerem Herzen, dass sich nicht einmal schlüssig darin war ob dieser gefährliche Akt es überhaupt wert war. Es wert war soviel zu riskieren.
Setzte sie nach der ungewissen Reise einen Fuß auf die Erde der einen Seite so verbrannte sie sich, um ihre Wunden anschließend im Eis der anderen zu kühlen bis ihr Fuß taub wurde und letztendlich abfrohr.
Wäre es um die Suche des geringeren Übels gegangen, wäre dies eine hell auf begeisternde Erleichterung, doch diese Wahl beschränkte sich auf Nichts oder Alles, auf da oder fort, auf Schmerz oder Schmerzen.
So lange in sich lebend, hauchte sie an dieFensterscheibe und befreite sie vom ewigen milchigen Raureif. Der Blick ins Freie verschreckte sie, lud sie ein. Schrecken kannte sie, kannte sie nicht mehr, tollkühn und erwartungsvoll, voller Erwartung an sich selber, öffnete sie daraufhin das Fenster.
Klamm waberte die frische Luft in den stickigen Raum, tauschte aus was überflüssig war, erneuerte was notwendig war. Sie lag da, bewegungslos, unter einer Decke aus Beherztheit und genoss in vollem Maße, dass Gefühl des Frost klirrenden Hauches der ihre Nasenspitze umspielte, ihre Augen zum tränen brachte und in ihren Ohren den Wunsch nach Verteidigung weckte.
In einer abrupten, gleitenden Bewegung, schneller als dass sie ihre eingeschlafenen Beine realisieren konnten hatte sie die Tür aufgerissen und war hinaus gerannt in den frisch gefallenen Schnee.
Sie zeichnete barfuß diese neue, alte Welt als ihr eigen.
Auf ihrer zarten Haut schmolzen die winzigen Eiskristalle, auf ihren rosigen Wangen mischten sie sich mit salzigen, lächelnden Tropfen. Was erst wie ein chaotisches Durcheinander wirkte konnte sie nun erkennen als eine Aufforderung zum Tanz, eine kollektive Gemeinschaft mit tausend und aber tausend Tanzpartnern, so tanzte sie in den fallenden, fliegenden, weißen Flocken. Durch Drehungen fremder, warmherziger Unbekannten gelangte sie dorthin wo sie sein sollte, wo sie Seien wollte.
Getragen nicht nur von ihren Händen sondern von einer immer gespürten Verbundenheit. Die Erkundung der Höhlen die bist in das Innerste dieser Welt führen konnten hatte ihr schon damals, in Zeiten unerträglichen Nordwindes, die Zeit vertrieben, sie erträglich gemacht und sie versüßt. An einem grauen Tag war der einzige Eingang verschütt gegangen. Doch bei jedem mal das sie zurückkehrte hatte sie einen der schweren Eisbrocken beiseite geräumt. So stand sie vor dem Eingang und sah den letzten Klumpen vor sich, er hatte immer gigantisch gewirkt, wenn sie ihn von weitem skeptisch mit ihrem Blick fixiert hatte. Doch jetzt als sie vor ihm stand, keine Kilometer entfernt, keine Meter, nur ein paar Zentimeter zwischen ihr und der letzten Hürde, erkannte sie diese als nichtig, als beinahe schon lächerlich. Mit einem Schritt setzte sie sich über ihn hinweg, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.
In dem Labyrinth aus Eis und Stein, welche sie früher kaum auseinander zu halten wusste, ergriff sie wieder das gleiche irrationale Gefühl welches sich schon zuvor hatte empfinden dürfen als sie in den Zusammenhängen des Chaos tanzte. Das undurchdringlich wirkende Dunkel leuchtete aus sich selber, ein roter Schleier der sich über alles gelegt hatte, der sie dieses mal herzlich und vollkommen in sich aufgenommen hatte. Er leuchtete ihr konstant den Weg, wie Glühwürmchen blinkten Teile dieses Außergewöhnlichen Zusammenschlusses genau indem winzigen Moment, in welchem sie hin mit ihrem Blick gestreift hatte, auf. Ihre Beine trugen sie unbeirrt vorwärts durch verwinkelte Gassen, die für jeden anderen Betrachter Sackgassen zu sein schienen, aber nicht für sie. Sie war sicher auf ihrem Weg, der Weg machte sie sicher. Mit einer Hand strich sie über das kalte poröse Gestein und hatte den Eindruck das ihre Finger warme Spuren auf ihm hinterließen. Der Übergang in die riesige Höhle, die diese Insel beherbergte, war abrupt und unerwartet und doch von ihr vorher gesehen.
Was sie damals bei diesem von Magie umwobenen Aufenthalt erlebt hatte, aufgenommen hatte, gelernt hatte und verstanden hatte, ist, so sehr man es auch versuchen würde in die passenden, maßgeschneiderten Worte zu kleiden, etwas das ohne Worte bleibt. Die Wortlosigkeit ist noch der Ausdruck der am ehesten den Ansatz dessen beschreibt was ihr widerfahren war.
Sie nahm, neben all den anderen diversen Dingen, die Sicherheit ihrer Schritte mit aus den Tunneln und Winkel. Mit diesen lief sie nun über die neu erkannte Insel. Es kam ihr vor als wären die Naturgesetze auf einmal andere, die Schatten fielen in die entgegengesetzte Richtung, der Regen, der fiel, war eine Zusammenkunft von umgedrehten Tropfen die miteinander fielen und die Kälte war milder geworden, war warm geworden. Frühling.
Sie entdeckte zerbrechliche grüne Sprosse, die sich ihren Weg durch die Schneedecke erkämpft hatten, kleine Farbtupfer im Weiß, die wachsen würden. Als sie mit geöffneten Augen zu der anderen Seite hinüber schaute überkam sie eine Sehnsucht die nur von ihrer Sehnsucht nach dieser Welt gebändigt werden konnte und dann fand sie sich wieder in der Mitte des Verständnis dieser Welten, in ihrem Gleichgewicht.
Ihre Füße hoben sich langsam Zentimeter pro Zentimeter vom Boden, getragen von einem Nordwind welcher mit ihr gewachsen war, der an ihr gewachsen war. Unter ihr das Funktionslose Seil, dass die beiden Inseln verband und sah von Oben, aus der Perspektive des Vogels, die Welt unter ihr ganz klein.
Die Zeit, die so lange stehen geblieben gewesen zu sein schien, lief nun mit all der Geschwindigkeit die sie ihr vorher genommen hatte und sie sah unter sich wie Herbst wurde, wie Winter wurde, wie Sommer wurde, wie wieder Frühling wurde, im Einklang der einen Welt mit der anderen. Im Einklang des einen Teils der Welt mit dem anderen.
Beschriebene Seiten eines Buches, dessen Klappentext nur aus einem einziger Kreis besteht, die aufeinander aufbauen, die einander fortsetzten, auf die andere folgen mit der gleichen anderen Geschichte.
Und wir müssen dieses Buch schützen, unser Buch der Zeit, denn wenn diese, unsere Welten sterben so tun wir Menschen es ihnen gleich, wenn wir nicht mehr an sie glauben können. Nicht mehr Glauben können an ihre kontinuierliche Veränderung, wenn wir sie binden wollen oder das gebunden sein beginnen zu hassen.


 © Apolonia Woodpecker